Jean Améry: Tortur, Radio, undialektisches Denken
Location
Room 202, State Farm Hall, Illinois Wesleyan University
Start Date
5-4-2014 10:30 AM
End Date
5-4-2014 11:45 AM
Description
1965 hielt der deutsche Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jean Améry einen Radiovortrag auf dem Süddeutschen Rundfunk zum Thema „Die Tortur.“ Während diese traditionell nur als nebensächliches Faktum zur Entstehungsgeschichte von Amérys im nächsten Jahr erschienenen, vielgelobten Werk Jenseits von Schuld und Sühne zitiert wird, möchte ich den medialen Ursprung des Essays als Ausgangspunkt einer Analyse von Amérys Tortur-Begriff nehmen. Wenn, wie Elaine Scarry in ihrer Studie zur Phänomenologie des Schmerzes The Body in Pain schreibt, „To witness the moment when pain causes a reversion to the pre-language of cries and groans is to witness the destruction of language“, dann kann Amérys Radiovortrag als eine Wiederherstellung der ihm in der Tortur abhandengekommenen Sprache durch die oral Präsenz der Stimme im Radio verstanden werden. Meine Präsentation lässt sich in zwei Teile gliedern. Im ersten Teil werde ich mich mit der Relation zwischen Tortur und Stimme befassen und dementsprechend den Folgen eines im Radio ausgedrückten Peines nachgehen. Elaine Scarry schreibt weiter in ihrer Studie, dass in der Erfahrung der Tortur die Gegenwärtigkeit des Folterers den Gefolterten vollständig überschwemmt und überwältigt. In einer Passage aus Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung wird die alles überwältigende Gegenwärtigkeit der Radiostimme Hitlers auf eine sehr ähnliche Weise beschrieben. Im Gegensatz dazu steht der Radiovortrag Amérys, in dem die Stimme nicht als Mittel zur Überwältigung, sondern, in einer Wendung, die Adorno für seine eigene Radiosendungen verwendet, als „Erziehung zur Mündigkeit“ dient. Der Begriff der Radiosendungen als Erziehung wirft die Frage auf nach dem Subjekt dieser Erziehung; die Auseinandersetzung mit dieser Frage wird den zweiten Teil meiner Präsentation bilden. Während sein Radiovortrag sich an das deutsche Volk als monolithische Einheit wendet, entwickelt Améry im weiteren Kontext seines Buchs Jenseits von Schuld und Sühne ein komplizierteres Konzept von seinen Zuhörern bzw. seinem Leserkreis. Dabei geht es vor allem um sein emphatisch un-dialektisches Denken; Améry behauptet eine strikte Trennung zwischen Opfern und Tätern, die nicht im dialektischen Denken aufgehoben werden darf (wie, laut Améry, der Fall ist in Adornos Negative Dialektik). Angesichts Amérys Opfer/Täter-Model, welche Rolle fällt dem Leser seines Texts zu? Wird der Leser zum Objekt von Amérys Anklage? d. h. besetzt der Leser die Stelle des Täters? Oder gibt es vielleicht eine dritte Stelle in Amérys Model, nämlich den im Vorwort zur ersten Ausgabe genannten „Mitmenschen“? Ich möchte meine Präsentation mit einigen Überlegungen zu einer Ethik des Lesens als Mitmensch abschließen.
Jean Améry: Tortur, Radio, undialektisches Denken
Room 202, State Farm Hall, Illinois Wesleyan University
1965 hielt der deutsche Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jean Améry einen Radiovortrag auf dem Süddeutschen Rundfunk zum Thema „Die Tortur.“ Während diese traditionell nur als nebensächliches Faktum zur Entstehungsgeschichte von Amérys im nächsten Jahr erschienenen, vielgelobten Werk Jenseits von Schuld und Sühne zitiert wird, möchte ich den medialen Ursprung des Essays als Ausgangspunkt einer Analyse von Amérys Tortur-Begriff nehmen. Wenn, wie Elaine Scarry in ihrer Studie zur Phänomenologie des Schmerzes The Body in Pain schreibt, „To witness the moment when pain causes a reversion to the pre-language of cries and groans is to witness the destruction of language“, dann kann Amérys Radiovortrag als eine Wiederherstellung der ihm in der Tortur abhandengekommenen Sprache durch die oral Präsenz der Stimme im Radio verstanden werden. Meine Präsentation lässt sich in zwei Teile gliedern. Im ersten Teil werde ich mich mit der Relation zwischen Tortur und Stimme befassen und dementsprechend den Folgen eines im Radio ausgedrückten Peines nachgehen. Elaine Scarry schreibt weiter in ihrer Studie, dass in der Erfahrung der Tortur die Gegenwärtigkeit des Folterers den Gefolterten vollständig überschwemmt und überwältigt. In einer Passage aus Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung wird die alles überwältigende Gegenwärtigkeit der Radiostimme Hitlers auf eine sehr ähnliche Weise beschrieben. Im Gegensatz dazu steht der Radiovortrag Amérys, in dem die Stimme nicht als Mittel zur Überwältigung, sondern, in einer Wendung, die Adorno für seine eigene Radiosendungen verwendet, als „Erziehung zur Mündigkeit“ dient. Der Begriff der Radiosendungen als Erziehung wirft die Frage auf nach dem Subjekt dieser Erziehung; die Auseinandersetzung mit dieser Frage wird den zweiten Teil meiner Präsentation bilden. Während sein Radiovortrag sich an das deutsche Volk als monolithische Einheit wendet, entwickelt Améry im weiteren Kontext seines Buchs Jenseits von Schuld und Sühne ein komplizierteres Konzept von seinen Zuhörern bzw. seinem Leserkreis. Dabei geht es vor allem um sein emphatisch un-dialektisches Denken; Améry behauptet eine strikte Trennung zwischen Opfern und Tätern, die nicht im dialektischen Denken aufgehoben werden darf (wie, laut Améry, der Fall ist in Adornos Negative Dialektik). Angesichts Amérys Opfer/Täter-Model, welche Rolle fällt dem Leser seines Texts zu? Wird der Leser zum Objekt von Amérys Anklage? d. h. besetzt der Leser die Stelle des Täters? Oder gibt es vielleicht eine dritte Stelle in Amérys Model, nämlich den im Vorwort zur ersten Ausgabe genannten „Mitmenschen“? Ich möchte meine Präsentation mit einigen Überlegungen zu einer Ethik des Lesens als Mitmensch abschließen.